Reisen

Peru (2019)

Ayacucho und die Wari

Von Lima aus ging es mit dem Flugzeug in die Anden in die kleine Stadt Ayacucho. Die meisten Touristen fliegen nach Lima und von da aus direkt weiter nach Cusco. Diese Standard-Route wird von dem Einheimischen als “ruta de los gringos”, die Route der Ausländer, belächelt. Wobei das Wort “Gringo” in Peru mit Vorsicht zu genießen ist. Dazu aber später mehr. Wir wollten also nicht direkt nach Cusco und das hatte zwei gute Gründe. Der erste Grund war, dass wir schlichtweg nicht die “ruta de los gringos” nehmen wollen, sondern Zwischenhalte machen wollten, um das “echte” Peru zu erleben. Der andere Grund war ein ganz pragmatischer. Während Lima fast auf Meeresspiegel-Höhe liegt, befindet sich Cusco auf über 3400m Höhe. Für viele Touristen ist die Höhenkrankheit da vorprogrammiert. Zwar kann man sich nicht zu hundert Prozent vor der Höhenkrankheit schützen, es ist jedoch ratsam es ruhiger anzugehen. Dann also nach Ayacucho. Dass dies nicht die gewöhnliche Route ist, zeigte sich bereits im Flugzeug. Wir waren die einzigen Ausländer und da Peruaner im Schnitt kleiner sind als Europäer, hat man uns die Plätze am Notausgang mit extra Beinfreiheit gegeben.

Ayacucho selber ist eine sehr kleine und überschaubare Stadt mitten in den Anden. Mit einem Blick auf die Karte entschieden wir uns die 30min vom Flughafen zum Hostel einfach zu laufen. Rückwirkend war das wohl nicht die beste Idee, denn der Weg führte uns einmal quer durch die Slums inklusive toter Ratten am Straßenrand, wilden Hunden, die ein Huhn zerfetzten, und verwirrten Einheimischen, die uns aus ihren Häusern heraus beobachteten. Das war definitiv nicht mehr Lima. Glücklicherweise war das Hostel, das ich raus gesucht habe, im Herzen von Ayacucho direkt an der Plaza de Armas und je näher wir unserem Ziel kamen, desto hübscher wurde es. Peru lebt vom Tourismus. Orte wie Cusco oder Puno werden von Touristen überrannt. Ayacucho hingegen wird bei der ruta de los gringos einfach überfahren oder überflogen. Dabei gibt sich die Stadt große Mühe Touristen anzulocken. Es gibt Hotels, Souvenirshops, Reisebüros für organisierte Touren, Archäologische Städten in der Nähe, … nur eines fehlt: Die Touristen. So schade ich es fand zu sehen, wie diese Menschen sich um Touristen bemühen, so bin ich im Endeffekt fast schon ein bisschen froh, dass Ayacucho nicht so überrannt wird wie die anderen Orte, denn es ist kein Geheimnis, dass der Tourismus auch seine Schattenseiten hat. So war es keine Überraschung, dass wir meistens die einzigen Ausländer waren. Es gab genau eine Ausnahme, nämlich das Via Via. Das Via Via ist das größte (und teuerste) Hotel Ayacuchos. Es verfügt jedoch über ein hervorragendes Restaurant, das für die Einheimischen wahrscheinlich kaum erschwinglich ist, das jedoch der einzige Ort in Ayacucho ist, an dem Mann auch mal andere Ausländer sieht. Dort haben wir auch direkt mal die ersten kulinarischen Bucketlist-Punkte für Peru erledigt: Alpaka-Fleisch und Coca-Tee. Alpaka-Fleisch schmeckt wie eine Mischung aus Rind und Schwein und war an sich nichts besonderes. Der Coca-Tee wurde jedoch zu einem unserer Lieblings-Getränke. Und gleichzeitig half er bei der Gewöhnung an die Höhenlage.

Eine unserer ersten Erkundungstouren durch Ayacucho führte uns zum Museo de la Memoria. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bereitete eine radikale Organiation namens Sendero Luminoso, was übersetzt so viel bedeutet wie “leuchtender Weg”, in Peru Angst und Schrecken. Diese Organisation fand ihren Ursprung in Ayacucho, welches gleichzeitig deren Haupt-Kerngebiet war. Das Museo de la Memoria versucht diese Zeit aufzuarbeiten. Es ist ein sehr kleines und dennoch sehr berührendes Museum. So fokusierte man sich hauptsächlich auf die wirklich erschütternden Einzelschicksale indem Angehörige zum Beispiel die letzten Gegenstände von ermordeten Hinterbliebenen an das Museum gespendet haben. Zusätzlich dazu gibt es Infotafeln, allerdings nur in spanischer Sprache, zu den Geschichten. Das ganze ist unglaublich erschütternd. So hat die Mutter eine verstorbenen als letztes Überbleibsel ein Seil gespendet. Sie hatte es als letztes Andenken an ihren Sohn erhalten, der, während er mit diesem Seil gefesselt war, zu Tode geprügelt wurde. Eine andere erschütternde Geschichte war die, die von einer Frau geschrieben wurde, deren Vater vor ihren Augen lebendig verbrannt wurde. Alles was ihr von ihm blieb und was nun mit ausgestellt wurde, war ein verbrannter Stofffetzen von dem Hemd, das ihr Vater dabei trug. Dieses Museum ist sicherlich keine leichte Kost und doch würde ich allen die nach Ayacucho reise empfehlen es trotzdem zu besuchen, denn es ist ein zentraler Bestandteil der Geschichte nicht nur der Region sondern auch des Landes.

Ein Grund, warum Ayacucho sich Touristen erhofft, ist, dass es die Hauptstadt der Wari war und die zentrale archäologische Ausgrabungsstädte dieses Volkes in der Nähe von Ayacucho liegt. Selbstverständlich war die Wari-Ausgrabungsstätte auch eines unserer Ziele. So kam es, dass wir uns in ein Sammeltaxi, einen sogenannten Colectivo, quetschten, das uns an unserem Ziel raus ließ bevor es weiter fuhr in die nächste Stadt. Die Wari-Ausgrabunsstätte war sicherlich einer der interessantesten Orte, die wir in Peru gesehen haben. Es gab ein kleines Museum und im Anschluss konnte man durch die Landschaft spazieren und die Überbleibsel dieser Zivilisation erkunden, während sich im Hintergrund ein atemberaubendes Anden-Panorama erstreckte. Und trotzdem waren wir mal wieder weit und breit die einzigen Ausländer. Dies machte uns wohl für einige Einheimische zur Hauptattraktion. Zwei Begegnungen sind mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Neben ein paar einheimischen Familien, die sich einen kleinen Ausflug gönnten, gab es mehrere Leute, überwiegend Frauen, in bunter traditioneller Kleidung, die Kaktusfeigen auf dem Areal ernteten. Als zwei von denen an uns vorbei liefen, beugte sich die eine zu der anderen herüber und murmelte: “Esos son gringos muy guapos”. Das heißt auf Deutsch so ungefähr: “Das sind aber hübsche Ausländer.” Wobei das Wort “gringo” einen gewissen Rassismus in sich trägt. Nicht umsonst ist die klassische Touristenroute ja die “ruta de los gringos”. Nun hatte die Dame das jedoch in so einem positiven Kontext gesagt, dass es diesen negativ konnotierten Begriff neutralisierte. Sie wirkte auch so, als würde sie es wirklich positiv meinen. Sicherlich war ihr nicht bewusst, dass wir (oder zumindest ich) der spanischen Sprache mächtig sind und das von ihr gesagte verstehen würden. Diese Situation lässt mich bis heute mit einem kleinen Schmunzeln zurück.

Die andere nennenswerte Begegnung folgte kurze Zeit später. Wir waren schon ein gutes Stück gelaufen, denn das Areal war riesig und die pralle Anden-Sonne fing an uns etwas zu schaffen zu machen. Glücklicherweise fanden wir einen kleinen überdachten Picknick-Spot und ruhten uns da kurz aus. Da kam ein Wachmann zu uns. Zugegeben muss es ziemlich öde sein dort Wachmann zu sein, denn wirklich viele Leute gab es hier nicht und schon gar keine “gringos”. Er fragte uns nach unseren Eintrittskarten, es war jedoch klar, dass das nur ein Vorwand war, um ein Gespräch anzufangen. Der Wachmann stellte sich als Gregory vor, was für einen Peruaner ein merklich ungewöhnlicher Name zu sein schien. Kurz darauf saß er schon bei uns, erzählte uns von der Ausgrabungsstätte und versuchte uns vergeblich ein paar Worte Quechua beizubringen. Ich kann mir sichtlich vorstellen, wie er an dem Abend wohl nach Hause gekommen ist zu seiner Familie und stolz erzählt hat, dass er sich heute mit Ausländern unterhalten hat. Nach unserem Besuch bei den Wari wurde uns jedoch langsam klar, dass uns noch die größte Herausforderung des Tages bevor stand.

Der Colectivo hatte uns quasi außerplanmäßig am Eingang raus gelassen, denn hier gab es keine offizielle Haltestelle. Das Areal war mitten im Nirgendwo im Herzen der Anden. So malerisch sich das auch anhören mag, so sehr wurde uns nun bewusst, dass wir keine Ahnung hatten, wie wir wieder zurück nach Ayacucho kommen sollten. Gegenüber vom Eingang auf der anderen Straßenseite waren einige Straßenhändler in provisorischen Verkaufsständen, die gekühlte Getränke, Süßigkeiten und die vorhin geernteten Kaktusfeigen zu verkaufen. Wir gingen über die Straße um uns bei einem älteren Herrn etwas zu trinken zu kaufen. Als könnte er unsere Gedanken lesen, fragte er uns, wo wir heute noch hin müssen. “Ayacucho”, antwortete ich und fragte nach ob es nicht womöglich doch irgendwo einen Colectivo-Stop in der Nähe gäbe. Er machte uns deutlich, dass wir uns hinten bei seinem Stand hinsetzen sollten und er das schon regeln würde. Und so saßen wir da und warteten. Lange Zeit geschah nichts. Zuerst fuhren gar keine Colectivos die Straße entlang und als sich dann mal doch einer blicken ließ, war dieser schon komplett voll. Zwischenzeitlich fing es an leicht zu nieseln uns es war bereits später Nachmittag. Langsam wurden wir ungeduldig. Auf der anderen Straßenseite hatte sich eine kleine Gruppe Peruaner versammelt, die wohl auch auf Colectivo-Jagd war. Da stürmte die Gruppe auf einmal auf einen Truck mit offener Ladefläche zu, dessen Fahrer angehalten hatte um sich mit Kaktusfeigen einzudecken. Der alte Verkäufer gab uns ein Zeichen es der Gruppe Peruaner nach zu tun. Ich rief noch schnell ein “gracias” in Richtung des alten Herrn und stürmte los. Kevin folgte mir leicht verwirrt. Vorne sprangen die Peruaner bereits auf die Ladefläche. “Ayacucho?”, rief ich dem Fahrer zu. Er nickte und zeigt nach hinten, was für mich das Zeichen war ebenfalls auf die Ladefläche zu springen. Ich vernahm hinter mir noch ein “ne, oder?” von Kevin, bevor er die aussichtslose Situation realisierte und ebenfalls auf die Ladefläche kletterte. Gerade in dem Moment kam ein Colectivo herangefahren und hielt an mit der Absicht uns mitzunehmen. Für einen kurzen Moment sah ich in Kevins Augen einen Hoffnungsschimmer auf blitzen. Da trat der Fahrer unseres Trucks auch schon auf’s Gaspedal und wir fuhren viel zu schnell durch die Anden. Ich weiß nicht wie häufig mir Kevin auf dem Truck und danach “ich hasse dich” zugerufen hat, doch rückblickend war diese Fahrt eines unserer größten Abenteuer in Peru und auch Kevin erzählt mittlerweile ganz gerne davon.
[Anmerkung von Kevin: “Gerne erzählen” – ich hatte damals Todesangst! Ich habe mir nicht nur bei jeder (geschnittenen) Kurve ausgemalt, wie der Truck jetzt in den Gegenverkehr reinrast und wir alle dabei drauf gehen, ich habe mir auch die Schlagzeile in Deutschland vorgestellt “Zwei Deutsche durch Verkehrsunfall in Peru ums Leben gekommen”, wie man öfters ähnliche Neuigkeiten liest.]

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